Glaube als Weg im Evangelium


Markus Mühling

aus: Evangelium und Wissenschaft 39 (2018), 73–87.

1. Glaube als Weg

Mit dem Zugang zum Glauben ist es so wie mit so manchem Zugang zu einem Bergweg: Man mag sich informiert haben, und doch sucht man den Zugang – irgendwo muss er doch beginnen – ehe man merkt, dass man ihn schon längst gefunden hat und auf dem Weg ist. Und das Spannende ist ja, was und wer einem auf dem Weg begegnet. Der Glaube ist aber weniger ein Weg, den wir gehen, sondern es ist eher so, dass der Weg uns geht oder wir gegangen werden. Wir mögen bei einem Weg durch eine frische Wiese den Eindruck haben, dass wir „Weg machen“ – also dass wir die Spur mit unseren Füßen formen, dass wir uns durchs Dickicht bahnen und dass wir eine bestimmte Strecke zurücklegen. Aber es ist – wenigstens im Glauben – genau umgekehrt: Hier formt der Weg mich, gestaltet mich und meine Identität. Glaube, das ist ja wesentlich immer Vertrauen, fiducia, und es ist unsere Vertrauensgeschichte, die uns zu denen macht, die wir sind. Daher ist mit einem Vorurteil aufzuräumen: Es gibt nicht Glaubende und Nichtglaubende, sondern nur Glaubende. Wer nicht auf dem Weg ist, der ist schon längst unter der Erde! Jeder ist auf dem Weg, aber nicht alle Wege sind gleich, nicht jedes Vertrauen ist recht, sondern viele Wege und wahrgenommene Spuren mögen täuschen.

Als fiducia, Vertrauen, kann der Glaube also ein Weg durch die Wildnis, das noch Kommende, das Unbekannte und den Advent sein – aber er kann niemals eine Autobahn sein: Eine Autobahn verbindet ja nur eine Ausfahrt und einen Ort neben dem anderen und ist ansonsten – solange sie dreispurig ist – selbst unwichtig: Idealerweise würde ich sie gar nicht benötigen, sondern von meiner Starteinfahrt instantan zur Zieleinfahrt gelangen. Auf der Autobahn gibt es klare Regeln, und die versprechen Sicherheit, securitas: Nicht umsonst sind die Autobahnen unsere sichersten Straßen. Aber im Glauben – darauf haben die Reformatoren hingewiesen –[74]kann und darf es keine Sicherheit geben, sondern Gewissheit, certitudo. Denn die Sicherheit der Autobahn ist trügerisch: Allzu oft kommt es doch zum Unfall; und vor allem: wenn man die Autobahn verlässt, hilft einem die Sicherheit der Autobahn und ihrer Regeln nicht mehr weiter: Man fährt jetzt viel zu schnell, die Straßen erscheinen einem viel zu eng, und man wird selbst zur Gefahr. Das ist bei der Gewissheit des Vertrauensweges anders: Hier bestimmen nicht abstrakte Regeln, sondern jeder konkrete Schritt, wie ich gehe: Mit ganzer Sohle trete ich fest auf dem Gebirgsweg mit Schuhen auf; über das weiche Gras mag ich barfuß auf dem Vorderfuß rennen, und über Steine in einem Bach hüpfe ich hinüber: Alles sind ganz andere Bewegungen, aber alle werden beherzt angegangen: In allen Bewegungen vertraut man also in seinem Gang, in seinem Handeln und Leben, dem wahrgenommenen Weg. Und wenn er nicht weiterführen mag oder schwierig wird, dann kann man ein Stück umkehren und nimmt einen anderen Weg. Und das ist die Gewissheit des Glaubens: Sie formt mich und meine Wahrnehmung, sie ist eine Schule des Vertrauens und Wahrnehmens. Ihre einzelnen Wahrnehmungen sind revidierbar oder vertiefbar, ohne dass man aufhört auf dem Weg zu sein. Und doch bestimmt sie über unser Leben, weil ich jedem Schritt vertraue und jeder Schritt mich formt.

Man muss sich aber davor hüten, die Gewissheit gegen die Sicherheit eintauschen zu wollen: Wer sich auf dem Gebirgsweg im Hochgebirge benimmt, als wäre er auf der Autobahn, ist nicht nur ein unerträglicher Rüpel und Besserwisser; nein, er wird auch nicht lange zu leben haben, sondern abstürzen. Der Glaube ist also ein Weg, der erst im Gehen entsteht, so wie ich von ihm geformt werde; und wichtig ist dabei, wie man ihn geht – und auch, dass man nicht vom Weg abkommt: Es mag viele Wege geben, aber einige führen in den Abgrund und in den Treibsand. Der Alltagsspruch, jeder könne glauben, was er wolle, ist aus mindestens zwei Gründen recht dumm: Es stimmt zwar, dass vielleicht nicht nur ein Weg der richtige ist; aber mit Sicherheit sind nicht alle Wege gleich gut, auch wenn sie zunächst so erscheinen mögen: Viele führen halt doch in den Untergang. Zweitens entscheidet niemand über seinen Glauben, sondern der Glauben über uns: Wir glauben nicht, was wir wollen. Sondern: Wir wollen, worauf wir vertrauen: Das ist bei Wegen so, das ist bei menschlichen Liebesbeziehungen so, und das ist auch zwischen Gott und Mensch so.

[75] Vertrauen ist kein konzeptionalisierbares Wissen, aber es schließt Wissen und Hoffnung auf dem Weg ein: Auf der Autobahn brauche ich konzeptionelles Wissen: Ich muss die wenigen Verkehrsregeln kennen und wissen, wie ich das Navi zu bedienen habe. Mit der Gewissheit des Vertrauens ist es anders: Es ist kein konzeptionalisierbares Wissen; ich weiß noch nicht, wohin es mich führt, so wie ich bei einer Eheschließung noch nicht weiß, wie unsere Zukunft aussehen wird. Aber keiner heiratet einfach die nächste Person, die er trifft – wenigstens nicht in der Regel – sondern es bedarf schon der Vertrautheit einer wie auch noch so geringen gemeinsamen Geschichte. Umso erstaunlicher scheint es zu sein, wenn ein ansonsten unbekannter Gott Abraham aus allem bisher Bekannten herausruft und auf einen Weg in ein Land schickt, das Abraham erst in der Zukunft genannt werden wird (Gen 12,1). Ist das Vertrauen Abrahams also eines, das ohne jede Kenntnis beginnt? Oder ist es nicht so, dass Abraham, als er von Jahwe angesprochen wird, merkt, dass er schon längst auf dem Weg ist und schon Jahwe vertraut hat, bevor er von ihm direkt angesprochen wurde? Dafür spricht, dass Abraham gewohnt war, in die Sterne zu schauen (Gen 15,5), und die, wie alles Natürliche, sind schließlich die Schöpfung desjenigen Gottes, der ihn herausruft. Das Wissen des Glaubens ist kein begriffliches Wissen: Es ist personale Kenntnis, notitia, die nur durch den personalen Umgang, durch die viva vox evangelii vermittelt werden kann. Aber es schließt eben begriffliches Wissen, auch über die Natur, nicht aus, sondern ein. Wissenschaftliche Konzeptionalisierungen beschreiben nicht, wie die Welt oder die Natur ist, sondern sie abstrahieren von der Realität. Sie stehen der Realität des Glaubens als Schule der Wegwahrnehmung aber auch nicht entgegen, sondern sie sind vielmehr darauf angewiesen, in dieser konkret eingebunden zu werden: Aus einem Begriffsschema, das man auswendig lernen kann und das man richtig oder falsch wiedergeben kann, wird so im Glauben ein geschichtliches Wissen: Und beim Erzählen von Geschichten ist viel mehr entscheidend, wieman sie erzählt: Ein guter Erzähler ist wie ein guter Wanderführer: Er gibt mit seinem Wissen nicht an, sondern er lässt den Wanderer überraschende Dinge entdecken, die ihm Lust auf mehr machen – auf mehr des Weges.

Diese wenigen Bemerkungen verstehen sich nicht als beliebig: Sie gelten für jeden Glauben und für jedes Leben – Sie sind also keine persönliche individuelle Meinung, die Privatsache sein könnte. Und das ist das nächste [76] Missverständnis, das es zu korrigieren gilt: Glaube als Vertrauen kann niemals Privatsache sein, nur ein Individuum ohne die Gemeinschaft angehen. Das gilt schon nicht für den einsamen Bergweg des Alleingangs: Dieser wäre nicht möglich, wären vor dem Bergsteiger nicht andere den Weg gegangen oder hätten es zumindest versucht – und auch das Schicksal des einsamen Alleingängers ist mit anderen verwoben: Selbst wenn es ihm rücksichtslos egal sein mag, ob er auf dem Weg umkommt oder nicht – anderen wird es nicht egal sein. Und so ist auch Glaube nie eine Privatsache, nicht einfach eine ästhetische Sache wie kulinarische Präferenzen, über die man reden mag oder nicht, sondern eine Sache, über die man reden muss – über die man Zeugnis geben muss.

Und genau das wird jeder Theologe auch mit jedem Wort und jedem Handeln machen: Es mag schlimmstenfalls erscheinen, wie eine pseudoobjektive Wissenschaft, aber ist doch stets immer auch Zeugnis. Vielleicht ist es schlecht erzählt. Vielleicht hat auch der Gesprächspartner die falsche Haltung. Vielleicht wird auch Unfug erzählt und es ist ein schlechtes Zeugnis – aber es kann nicht nicht Zeugnis sein, selbst wenn man das wollen würde.

2. Einige Einflüsse

Natürlich interessiert uns normalerweise nicht, was einen Weg an sich ausmacht, sondern wir wollen eine konkrete Reisegeschichte hören! Diese Aufgabe bringt mich allerdings ein wenig in Verlegenheit: Ich weiß gar nicht, ob ich meine Geschichte so gut erzählen kann, ich halte mich für Autobiographisches für viel zu jung und unliterarisch – und ich weiß nie, ob die Dinge, die ich auslasse, nicht viel wichtiger sein mögen, als die Episoden, die ich erzählen mag. Da es aber genau diese Aufgabe ist, nun denn, so will ich von denen erzählen, die mir gleichursprünglich das Evangelium zur viva vox haben werden lassen.

Hier stehen zu Beginn, wie bei vielen von uns, meine Eltern, insbesondere meine Mutter. Beschreiben zu wollen, was genau ich von ihnen und ihr für meinen Glauben erhalten hätte, wäre vermessen: Eltern-Kind Beziehungen sind eben Liebesbeziehungen, und in Liebesbeziehungen kann man nie zurückgeben, was man erhalten hat – und als Kind kann man nie wissen, was man genau von den Eltern erhalten hat.

[77] Ein junger, heranwachsender Mensch hinterfragt das scheinbar Selbstverständliche, das von den Eltern Ererbte, wenn er nicht dagegen rebelliert. Hier war mir der Religionsunterricht an der Ricarda Huch Schule in Dreieich eine große Reflexionshilfe, besonders durch einen Lehrer, Clemens Scheitza. Hier begann ich Martin Luther zu lesen, Paul Tillich und Jürgen Moltmann. Stellvertretend für alles, was hier beeindruckend und daher prägend war, war, dass mich ein Gedanke von Tillich begeisterte: Das Dämonische besteht darin, dass die Symbole und Mittel für die Sache, auf die sie hinweisen, selbst gehalten werden: Und das geschieht auch in der Institution der Kirche, die in der Gefahr ist, sich selbst absolut zu setzen anstelle desjenigen, auf den sie verweist. Dieser Gedanke schien mir eine so große Selbstkritik der Kirche zu beinhalten, dass alle Religionskritiken von außen mir dagegen sehr oberflächlich erschienen. Und schnell war ich davon hingerissen, da mitmachen zu wollen: Der Gedanke an ein Doppellehramtsstudium – einerseits Evangelische Theologie, andererseits Physik oder Chemie – wurde schnell zugunsten des Pfarramtsstudiums aufgehoben: Denn wenn ich wirklich wissen wollte, was die Welt im innersten zusammenhält, dann waren nicht die Naturwissenschaften, sondern eben die Theologie die erste Wahl. Und von dieser Erwartung bin ich auf meinem akademischen Weg, der damit begann, nie enttäuscht worden: Die Beschäftigung mit wissenschaftlicher Theologie kann das Vertrauen des Glaubens nicht schwächen, sondern nur vertiefen.

Mit Eberhard Wölfel habe ich einen ersten akademischen Lehrer kennengelernt, der mir zeigte, dass auch meine naturwissenschaftlichen Interessen mit dem Theologiestudium nicht vorbei sein mussten. In Christoph Schwöbel habe ich dann einen Lehrer und späteren Doktorvater gefunden, ohne dessen zahlreichen Gespräche und Wegbegleitungen meine Theologie und mein Glaube ganz anders wären, auch wenn sich meine Theologie heute vermutlich von seiner unterscheidet. Unter den zeitgenössischen Theologen meiner Lehrergeneration waren oder sind für mich u.a wichtig Wolfhart Pannenberg, Eberhard Jüngel, Eilert Herms und Robert W. Jenson. Aus der mittelalterlichen Theologie haben mich bleibend Richard von St. Victor und Raimundus Lullus beeinflusst. Im 19. Jh. waren für mich anglophone Theologen wie Thomas Erskine of Linlathen oder Robert William Dale oft eindrücklicher als viele deutschsprachige Theologen. Viel für Theologie und Frömmigkeit habe ich in jüngster Zeit auch Wissen-[78]schaftlern zu verdanken, die keine Theologen sind, wie der Philosoph Anton Friedrich Koch oder der Sozialanthropologe Tim Ingold. Für die eigentliche pastorale Arbeit, mit der ich ja nur nebenbei beschäftigt bin, habe ich viel von Wolfgang Drechsel gelernt. Und wenn ich den Einfluss auf meine Glaubensbildung mit meinen Eltern begann, so muss ich ihn mit meinen Kindern beschließen, die mir oft – ohne es vermutlich zu wissen – das Evangelium zur viva vox haben werden lassen.

Der Nennung konkreter Namen sei damit stellvertretend Genüge getan; vermutlich habe ich viele vergessen, die mich geprägt haben. Auch überlasse ich es anderen herauszufinden, worin ich von den genannten Namen geprägt sein mag – was ja vermutlich nur Spezialisten interessieren dürfte, abgesehen davon, dass es sich um eine nicht wirklich wichtige Frage handelt.

Mindestens zwei Namen seien in diesem Zusammenhang aber dennoch genannt: Trotz all unserer sehr unterschiedlichen Bildungswege, fand ich es immer wieder beeindruckend, wie positiv man auch auf Resonanz bei Theologen mit anderer Bildungsgeschichte als der eigenen stoßen kann; und hier sei stellvertretend Hans Schwarz genannt. Trotz unterschiedlicher Bildungswege haben sich hier doch immer wieder fruchtbare Verknüpfungen und Verschlingungen ergeben, für die ich nur in Hochachtung dankbar sein kann.

Zur Karl-Heim Gesellschaft kam ich ursprünglich wegen der interdisziplinären Arbeit und der angenehmen, sachlich orientierten Gesprächsatmosphäre auf den Tagungen, die ich stets ohne jegliche Eitelkeiten erlebt habe. Mit Karl Heim selbst habe ich mich erst in den letzten Jahren beschäftigt. Einiges, wie sein Personalismus oder seine Rezeption der phänomenologischen Tradition sind mir sehr vertraut und halte ich für sehr wichtig. Anderes, besonders im fundamentaltheologischen Bereich, wie beispielsweise Heims Transzendenzbegriff, halte ich für beeindruckend und auch heute noch intellektuell kaum zu übertreffen – aber auch für wert der kritischen Betrachtung. Im materialdogmatischen Bereich bin ich sicher weiter von Heim entfernt, wenn ich auch seine organisch-zwanglose Verbindung von Wissenschaft und Frömmigkeit für nicht weniger wichtig halte als die seines Vornamensvetters, dessen Theologie die erste Hälfte [79] des 20. Jh. so stark bestimmt hat, dass andere dieser Zeit zu Unrecht in den Hintergrund traten.

3.  Gott

Nicht der Glaube ist eigentlich wichtig, sondern das, was Grund und „Gegenstand“ des Glaubens ist: Gott selbst. Denn zwar gehören Gott und Glaube „zuhauf“, aber es ist doch Gott, der den Glauben macht, nicht der Glaube, der Gott macht, wenn auch Gott selbst nur im Glauben wahrgenommen werden kann. Der Glaube hat also ganz und gar nicht von sich selbst zu sprechen und über sich selbst nachzudenken, sondern von Gott – wenn es auch, wie Bultmann erkannt hat, nur möglich ist „von Gott“ zu sprechen, wenn Gott unser stammelndes Sprechen und Denken von Gott selbst rechtfertigt.

Der Grund und der „Gegenstand“ des christlichen Glaubens ist der dreieinige Gott. Glaube ist nicht selbstgemacht, niemand entscheidet sich, zu glauben. Er ist ein Geschöpf des Vaters, richtet sich auf die Sichtbarkeit Gottes im Mensch gewordenen Sohn Jesus Christus und wird uns evident im Handeln des Heiligen Geistes. Da Gott keine Person ist, sondern ein Gewebe von Beziehungen und Prozessen der Personen Vater, Sohn und Heiliger Geist, ist es wesentlich, dass dem Glauben jeder Individualismus fern ist: Personale Besonderheit beim Menschen entsteht nicht gegen oder in Abgrenzung vom anderen, sondern so wie Gott eine Liebesgeschichte ist, so auch die Menschheit als imago dilectionis. Daher kommt Glaube immer nur aus der Kommunikation in der Gemeinschaft und bedarf zu seiner Lebendigkeit stets dieser Gemeinschaft; im Einsamen verkümmern Glaube und Mensch. Als Gabe des dreieinigen Gottes ist der Glaube kein Verständnis der Wirklichkeit, keine Theorie der kognitiven Interpretation, mit der wertlose Fakten gedeutet würden. Vielmehr ist er unsere Art und Weise, wahrzunehmen. Wenn wir also im Glauben wahrwertnehmen, der Glaube aber stets trinitarisch in seinem Ursprung und Gegenstand ist, dann bedeutet dies, dass wir letztlich in Gott selbst wahrwertnehmen. Diese durch und durch trinitarische Wurzel des Glaubens darf nicht missverstanden werden. Es geht nicht um die Trinitätslehre, sondern es geht um den trinitarischen Gott, wie er biblisch bezeugt ist und sich selbst uns zeigt. Man kann die geschichtlichen Konzeptionalisierungen um die Trinitäts-[80]lehre leugnen, sich aber doch im trinitarischen Glauben bewegen: Das marana-tha – „Unser Herr, komm“ – als erstes Gebet der Christenheit bezieht sich, wie der neutestamentliche Titel „Herr“ überhaupt, immer auf Jesus Christus. Im Gebet kann man sich nur konkret an den Vater wenden durch den Sohn. Dabei ist „Vater“ aber keine Metapher, die von menschlichen Vätern auf Gott übertragen würde, genauso wenig, wie menschliche Liebe auf das Sein Gottes übertragen würde. Vielmehr ist es in beiden Fällen genau umgekehrt: Was im Verhältnis Jesu zu seinem „Abba“ sichtbar ist, bestimmt, was „Vater“ wirklich bedeutet, genauso wie Kreuz und Auferweckung bestimmen, was „Liebe“ wirklich sein kann. Entsprechend wäre es eine Deformationsgestalt, wenn Christus nicht als wahrer Mensch und wahrer Gott erkannt würde: Er ist kein menschliches Vorbild.

Der Vater wird aber nicht nur im Glauben durch den Sohn erkannt, sondern auch im Heiligen Geist. Und das bedeutet, dass es kein menschlich-persönliches, kein soziales und kein biologisches Prinzip geben kann, das hinreichend erklärt, wie Glaube zustande kommt. Ohne den Heiligen Geist, der mich vertrauen lässt, würde ich falsch vertrauen. Und dies anzuerkennen, heißt Gott die Ehre zu geben.

Diese trinitarische Struktur des Glaubens hat aber noch mehr und bedeutende Auswirkungen:

Als Schöpfungsglaube bedeutet das christliche Vertrauen als Weise der Wahrnehmung, dass die Wirklichkeit – mein Leben, das meiner Liebsten, die Naturgüter und Kulturgüter schon werthaft als nicht merkantile Liebesgabe mit Eigenwert für den Schöpfer, unabhängig vom Wert für mich, wahrgenommen und respektiert werden.

Als Heilsglaube bedeutet das christliche Vertrauen als Weise der Wahrnehmung, dass das Gewebe welthafter Prozesse als immer schon gestört oder ver-rückt, aber zur Rettung bestimmt wahrgenommen wird. Es kann also keine perfekte oder aus sich heraus perfektible Sozial- oder Naturordnung geben. Das Heil ist zwar hier immer auch schon wahrnehmbar, aber unter der Gestalt des Kreuzes.

Als Vollendungsglaube ist sich der Glaube nicht nur bewusst, dass er selbst immer unverfügbares Geschenk des Heiligen Geistes ist, sondern auch auf [81] eine Vollendung angelegt ist, die der Mensch nicht selbst machen kann und die nicht in der Naturordnung angelegt sein kann: Genauso wie die Rechtfertigung als Schöpfung Gottes verstanden werden muss, ist also auch die Vollendung als solche zu verstehen. Die eschatische oder letztgültige Realität ist daher nicht das Hier-und–Jetzt, sondern der Advent Christi. Die Vollendung des Reiches Gottes ist also kein Ende, auch kein mystisches Aufgehen in einer geschichtslosen Ruhe, sondern selbst ein beziehungshaftes Werden, eine Liebesgeschichte, die aber ein unzweideutiges Werden darstellt, unmittelbar, von Angesicht zu Angesicht mit Vater, Sohn und Heiligem Geist.

Der im trinitarischen Vertrauen Wahrnehmende wendet sich kommunikativ an Gott wie an seine Mitgeschwister: Gott gegenüber im Dankgebet für die Gabe, im Bittgebet für das Erhoffte, und auch im Klagegebet für die Enttäuschungen der eigenen Erwartungen; den Mitgeschwistern gegenüber im Zeugnis in Wort und Tat.

4. Widerstände und der Umgang damit

Christlicher Glaube kann deformiert werden und er ist zahlreichen Anfechtungen und Versuchungen ausgesetzt. Einige der heute wichtigsten Herausforderungen seien im Folgenden benannt:

a) Versteckte Werkgerechtigkeit

In einer Gesellschaft, in der immer mehr Lebensbereiche rein merkantilen Logiken unterworfen werden, ist es nicht leicht, sich nicht der Gnade Gottes zu verweigern, indem man seine eigenen Leistungen für seine Identität hochschätzt. Den Glauben somit zum Werk zu machen und zum Aberglauben zu verkehren ist wohl eine Gefahr, die niemand fremd sein dürfte. Leicht ist es, von der Gnade zu reden, aber nicht einfach, aus ihr zu leben. Allzu oft wollen wir uns nichts schenken lassen, sondern denken schon an die Gegengabe – und zerstören damit alles.

b) Prosperismus

„Gott lässt seine Sonne scheinen über Gute wie über Böse“. Diese Einsicht der Verkündigung Jesu macht Schluss mit jedem Tun-Ergehens-Zusammenhang. Und doch begegnet dieser uns häufig: Fragen zu stellen, wie [82] „Glaube ich nicht richtig, weil es mir hier nicht gut ergangen ist?“ sind höchst teuflische Versuchungen, genauso wie Glaube und Gesundheit zusammenzubringen und das Heil wörtlich medizinisch zu verstehen. Unsere Hoffnung ist Christus, der auferstandene Gekreuzigte. Und die Hoffnung der Auferstehung ist nicht ohne die conformitas crucis zu haben.

c) Vertauschung der Erwartungshorizonte

Der Glaube als Vertrauen oder Weise des Wahrwertnehmens bildet einen Erwartungshorizont, in dem unsere Lebenserfahrung auf dem Weg ihren Sinn erhält. Wir haben aber nicht nur einen Erwartungshorizont, sondern deren viele: In der Familie erwarte ich etwas anderes als im Berufsleben oder im Verkehr: Wenn ich meinem Taxifahrer vertraue, bedeutet das etwas ganz anderes, als wenn ich meiner Frau vertraue, nämlich nur, dass ich erwarte, dass er anständig fährt. Diese alltäglichen Erwartungshorizonte können sich überschneiden und einander beinhalten; auch können sie durch weitere Lebenserfahrung auf dem Weg verändert und erweitert werden. Der Glaube hingegen ist ein eschatischer oder letztgültiger Erwartungshorizont, der alle anderen Alltagshorizonte umspannt. Daher gibt es nichts, was ihm fern wäre, und er erwartet, überrascht zu werden – denn nichts anderes bedeutet die Hoffnung der Auferstehung. Wie oft aber verkommt der Glaube zum Kleinglauben, wenn der Glaube zu einem partikularen Horizont, zu einem Gebrauch, zur puren Tradition oder Folklore verkommt, und andere Teilhorizonte sich zum religiösen aufschwingen; sei es, wenn wir verdeckt physikalistisch, biologistisch oder merkantilistisch zu denken beginnen.

d) Versteckter Immanentismus

Eine Spezialform der Deformation des Glaubens – also der Sünde – ist sicher auch der versteckte Immanentismus. Und auch dieser ist eine große Versuchung: Wir mögen die chemische, physikalische und biologische Evolution anerkennen, aber wir sind kaum bereit, anzuerkennen, dass sich auch die Gesetzte, nach denen die Welt regiert wird, verändern könnten. Gott ist zwar, wie der Inkarnationsgedanke sagt, eindeutig auch immanent; aber das bedeutet nicht, dass unsere Beschreibungen der Welt mittels der Naturgesetze alles sind. Naturgesetze, gleich ob man sie als Universalhypothesen versteht oder als statistische Abstraktionen von Wahrscheinlich-[83]keiten, betreffen eben nicht unsere gesamte Weggeschichte: Wir erwarten – und das ist die dem christlichen Glauben wesentliche Hoffnung auf eine eschatische Realität – dass es mit dieser Weltordnung in Zukunft vorüber sein kann und wird. Auf eine andere Weise hofft der Glaube auch nicht auf eine Hoffnung über den Tod hinaus. Die Frage, wann das sein wird, ist einfach zu beantworten: Es kann, biblisch verstanden, jederzeit der Fall sein, denn „der Herr kommt wie ein Dieb in der Nacht“. Aber sind wir oft nicht eher geneigt, dies für eine bildliche Rede ohne Gehalt zu nehmen, als wirklich zu sehen, dass das geschehen kann, noch bevor Sie diesen Satz zu Ende gelesen haben werden? Und wenn wir doch bereit sind, das anzuerkennen, wie oft denken wir uns fälschlich die eschatische Realität als eine Hinterwelt oder als ein Ende des Werdens, anstelle der wirklichen Realität oder anstelle des wirklichen Werdens?

e) Individualismus und Kollektivismus

Wenn der Mensch Bild der trinitarischen Liebe Gottes ist, dann ist er als Person ein besonderes Voneinander-und-Füreinander Werden. Er ist daher kein autonomes oder autarkes Individuum, das in sich selbst vollständig wäre, und erst sekundär, wie in Vertragstheorien, in Beziehung tritt. Die Versuchungen des Individualismus sind derzeit schon so offensichtlich, dass man sich fragt, warum man ihnen eigentlich oft doch erliegen mag: Aber auch die banalste Melodie wird zum Ohrwurm, wenn sie nur oft genug wiederholt wird. Auch die einfachste Versuchung ist wirksam, wenn sie beständig da ist – und dann doch einmal nicht als solche durchschaut wird. Kaum hat es ein Zeitalter gegeben, in dem dieser widermenschliche Individualismus nicht alle Lebensbereiche erobert hat: Urlaub hat Individualurlaub zu sein, der Name neugeborener Kinder soll möglichst originell und einmalig sein und gerade nicht den des Großvaters oder der Großmutter wiederspiegeln, und Lehrer sind aufgerufen, auf die streng individuellen Bedürfnisse ihrer Schüler zu achten. Und wenn der Individualismus als zerstörerisch durchschaut wird, dann wird er oft nur durch seinen Schatten, den Kollektivismus ersetzt, indem das Kollektiv – der Verein, die Gemeinde, die Firma, über den Einzelnen gestellt wird. Mit dem Ende des „real existierenden Kommunismus“ ist der Kollektivismus keinesfalls erledigt, war er doch stets wirkungsvoller in freien Marktlogiken enthalten. Und fast hat man den Eindruck, die Sucht nach Individualismus, [84] sei es die frei gewählte oder die staatlich verordnete der Liberalisierung, ist nichts anderes als ein Mittel, das direkt in die Arme des merkantilen Kollektivismus treibt. Der christliche Glaube lehnt weder Gemeinschaft noch personale Besonderheit ab; aber er sieht sie nicht als Gegensätze und nicht als Polaritäten: Wenn wir Personen in Beziehung sind; wenn wir Besondere Voneinander-und-Füreinander Werdende sind, dann bedeutet dies, dass wir unsere Besonderheit nur vom anderen her, nur in der Gemeinschaft haben; nicht vor dieser und nicht ohne diese. Christlicherseits bedeutet es auch, dass die Doppelregel der Liebe zuallererst kein ethisches Gebot, sondern ein ontischer Sachverhalt ist, der beschreibt, wer wird sind, und den wir – da wir durch eigenes Tun dem nicht nachkommen können – im Handeln verleugnen.

f) Verwechselung von Heil und Narzissmus

Der christliche Glaube ist Heilsglaube, und der Blick aufs Kreuz verspricht uns die Gewissheit „Du bist gerettet“, also die Heilsgewissheit. Denn wer meint, Gott könne einen bestrafen und es böse mit einem meinen, der vertraut offensichtlich Gott nicht und ist darin Gott am fernsten. Aber es ist eben der Blick aufs Kreuz, der diese Heilsgewissheit verspricht, nichts anderes. Es ist keine natürliche Ordnung. Wenn wir den hier genannten Versuchungen auf dem Weg des christlichen Glaubens immer wieder verfallen mögen, dann ist das ja ein Ausdruck davon, dass wir simul iusti et peccatores sind, und also auch auf dem Weg des Glaubens immer auf die Rechtfertigung Gottes angewiesen sind. Aber die Rechtfertigung des Sünders ist ja kein analytisches Urteil das besagen würde „Sünde ist Gerechtigkeit“. Es ist nichts, was natürlicherweise vorhanden wäre oder sein kann, sondern eine Wirkung der Geschichte Gottes mit den Menschen, in der sich Gott am Kreuz vom Menschen passibel zeigt und verletzlich. Gerade die Liebe ist am Kreuz offenbar. Wenn Liebe eine Identitätsverschränkung ist, dann ist Zorn eine berechtigte und notwendige Offenbarung der Liebe, die der Versöhnung bedarf. Liebe ist also nichts Harmloses, und nichts, das durch unsere Wunschvorstellungen von Liebe regiert werden dürfte. Am Kreuz vorbei gibt es keine Liebe. Wie oft aber drehen wir es um! Wie oft meinen wir, Gott sei wie menschliche Mütter oder Väter! Wie oft meinen wir, Gott komme unserenHeilsvorstellungen zu Hilfe, anstelle zu sehen, dass Gott nicht heilt ohne zu richten. Ein Ausdruck dieser Glaubensdeforma-[85]tion scheint mir die gegenwärtige Besessenheit mit dem zu sein, was man nicht ganz korrekt das Theodizeeproblem nennt. Wenn viele von uns heute in einer satten und prosperierenden Gesellschaft, ohne tatsächliches Leid erfahren zu haben, fragen, warum ein guter Gott Leid zulässt, dann scheint mir das eher die verklausulierte Frage zu sein, warum Gott nicht der Garant meines persönlichen Narzissmus ist, wie auch viele ihre Eltern als Garanten des persönlichen Narzissmus erlebt haben mögen, die allzu oft „Dein Wille geschehe“ zu ihren Kindern gesagt haben mögen.

g) Die Rede vom „freien Willen“

Schon Luther hat erkannt, dass es einen freien Willen nicht geben kann, weil der Ausdruck „freier Wille“ eine contradictio in adiecto ist wie auch ein schwarzer Schimmel oder ein hölzernes Eisen. Das gleiche gilt aber auch für einen unfreien Willen. Freiheit ist ein Prädikat, das man sinnvollerweise mit dem Handeln zusammen bringen kann: Es gibt Handlungsfreiheit; der Mensch kann tun, was er will, wenn er nicht daran gehindert wird. Die Frage nach der Willensfreiheit lautet aber nicht, ob der Mensch tun kann, was er will, sondern ob er wollen kann, was er will. Und man muss nicht Christ sein, um das als unsinnig zu erkennen. Der Wille ist also immer gebundener Wille, eingebunden und verwoben, gesteuert von unseren Affekten, von unseren Wünschen und Präferenzen und auch von unseren vernünftigen Überlegungen, wie vernünftig sie auch tatsächlich sein mögen. Unser Wille wird nicht intentional, sondern attentional bestimmt. Leugnet man das, ändert es nichts, sondern man hält dann das, was einen attentional besitzt – früher sprach man hier von Besessenheit – für den eigenen Willen und gibt ihm die wahre Macht im Verborgenen. 

h) Entkontingentisierung

Unter den vielfältigen Erscheinungsformen der Widerstände oder Deformationen des Glaubens sei zuletzt vielleicht die größte Versuchung benannt, etwas, das ich Entkontingentisierung nennen möchte. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein. Kontingenzreduktion wäre ein verwandtes Wort, aber der Versuch einer Reduktion von Kontingenz ist eben nicht das gleiche wie der Versuch, Kontingenz verschwinden lassen zu wollen. Was hat es mit dieser Gestalt der Glaubensgefahr auf sich? Glaube als Vertrauen auf den dreieinigen Gott, der Liebe ist, hofft ja auf einen Gott, der in Liebe [86] an uns handelt, ohne dass diese Regel der Liebe jemals ein Gesetz werden könnte. Die Liebe kennt die Besonderheit, dass sie als Regel das Regellose einschließt, dass sie Freiheit und Kontingenz – Zufall – miteinschließt. Dennoch sind wir es gewohnt, und das ist höchster Ausdruck der Gottferne – beständig nach Ursachen für unser und anderer Ergehen zu fragen: Dabei spielt es keine Rolle, ob wir nach naturwissenschaftlichen Ursachen, technischen oder sozialen Mechanismen fragen, oder ob wir den Willen Gottes an dieser Stelle einsetzen. Es fällt uns schwer zu akzeptieren, dass in einer Welt, die von Gott aus Liebe und in Liebe und zur Liebe geschaffen ist, Ereignisse einfach geschehen, ohne dass es eine innerweltliche Ursache oder einen göttlichen Plan dafür gibt. Aber genau so ist es: Unter allen Geschöpfen Gottes ist die Kontingenz vielleicht am meisten beeindruckend, aber auch die, die wir am meisten bändigen, nicht wahrhaben, wegschließen und verweigern wollen.

Eine Phänomenologie der Widerstände des Glaubens, also der Erscheinungsformen der Sünde, darzustellen, ist sicherlich einfacher als eine des Guten, der Überwindung des Bösen darzustellen. Die hier gebotene Aufzählung von Widerständen versteht sich nicht als vollständig, und ihrer Erscheinungsformen sind weit mehr. Dennoch sei hier einfach abgebrochen. Denn zumindest kurz muss auch der Frage nachgegangen werden, wie man diesen Widerständigen begegnen kann. Und die Antwort darauf kann nur eine sein:

All diese Widerstände gegen den Glauben erscheinen denen, die sie vertreten, freilich selbst als „gewiss“, d.h. sie sind eine Form des Aberglaubens. Man kann also nur so damit umgehen, dass man beständig Zeugnis ablegt, aufweist, warum diese Formen nicht evangeliumsgemäß sein können, aber ohne darauf zu insistieren, dass es die Aufgabe des Zeugen sein könnte, die Korrektur zu bewirken; das kann vielmehr nur Aufgabe des Heiligen Geistes sein, wenn man sich nicht selbst vollständig widersprechen will. Der Zeuge wird also bewusst darauf verzichten, die Wirkung des Zeugnisses herstellen zu wollen, wenn es denn überhaupt Zeugnis sein soll. Gleichzeitig muss man sich auch bewusst sein, dass man diese Wiederstände nicht selbst besiegen kann, wenn man selbst ihnen erliegt, sondern hier darauf angewiesen ist, von anderen das Evangelium verkündet zu bekommen. Glaube ist ständig auf dem Weg, im Hier und Jetzt, solange er angefochten ist, aber auch im Werden der eschatischen [87] Realität, dann aber ohne Anfechtung. Glaube ist der Weg, auf dem man sich als Teil der Geschichte des Evangeliums wahrnimmt.